Montag, 21. Mai 2007

Ein Ausflug nach Rathenow

Sonntag, 11.3.2007


Ursprünglich hatte ich ja vorgehabt, die Vorstellung von „Karbid und Sauerampfer“ im Rahmen der Ausstellung zu Erwin Geschonnecks 100. Geburtstag im Stadthaus von Lichtenberg zu besuchen. Als ich aber auf dem Weg zur S-Bahn merkte, was für ein unglaublich schönes Wetter herrschte, schien mir der Gedanke, längere Zeit in einem geschlossenen, abgedunkelten Raum zu verbringen, völlig abwegig, und ich beschloss, irgendeine nicht allzuweit entfernt liegende Stadt zu besuchen. Der nächste Regionalzug, der am Bahnhof Alexanderplatz abfuhr, ging nach Rathenow, und da ich aufgrund der entsprechenden Einträge im „Architekturführer DDR – Bezirk Potsdam“ ohnedies schon seit ein paar Tagen Lust gehabt hatte, diese Stadt zu sehen, nahm ich die Chance wahr.

Als ich ankam, sah ich südlich der Eisenbahnlinie gleich ein paar Wohnblocks, die mein Interesse erregten, aber leider stellten sie sich nicht, wie gehofft, als Ausläufer eines größeren Wohngebiets heraus, sondern standen zu viert ganz verloren am Stadtrand. Zur nördlichen Seite der Schienen jedoch begann die eigentliche Stadt mit einem Denkmal J.H.A. Dunckers, des Begründers der optischen Industrie der Stadt. Es wird umschlossen von einer bogenförmigen Wohnbebauung, die an den Platz der Luftbrücke erinnert, aber wahrscheinlich eher aus den 50er Jahren stammt. Nach diesem etwas erdrückenden Eindruck wird man aber, sofern man der Straße, die von der Mitte des Bogens ausgeht, folgt, mit dem Ehrenfriedhof der Roten Armee belohnt. Leider ist dieser nicht mehr öffentlich zugänglich, sonst hätte ich wohl im Bahnhof nach einem Blumenladen gesucht, um eine Nelke für die gefallenen Helden und armen Schweine abzulegen.

Nicht weit vom Ehrenmal entfernt liegt Rathenow-Ost, ein sympathisch-verschlafenes Neubauviertel aus den späten 50ern / frühen 60ern mit vielen Bäumen und Vogelgezwitscher, wo jedoch erwartungsgemäß der Großteil der ehemaligen Versorgungseinrichtungen heutzutage leersteht. Wie beim Mahnmal für die Opfer des nationalsozialistischen Zuchthauses in Brandenburg, das ich vor wenigen Tagen besuchte, so wird auch hier dem antifaschistischen Kampf erst durch die Nähe des Gedenkortes zum sozialistischen Wohngebiet, das den Sozialismus nicht nur als abstraktes Ziel, sondern konkret im Alltag erfahrbar macht, ein wirklicher Sinn gegeben. Leider führt der Weg hierhin am Haus der Stadtverwaltung vorbei, in dessen Garten eine 1996 geschaffene Skulptur namens „Alles super“, die eine riesige, zum Topdaumen geformte Hand mit kleinem Kopf zeigt, den Betrachter mit einem ziemlich mulmigen Gefühl entlässt.

In westlicher Richtung des Wohngebiets kommt man zum Friedrich-Ebert-Ring, der die Innenstadt begrenzt. Es gibt wahrscheinlich keine einzige nach Ebert benannte Straße der DDR, die nach der Konterrevolution umbenannt wurde, stattdessen wurden sie einfach allesamt auf seinen Vater umgewidmet. Hier finden sich Wohnbauten von Otto Haesler, denen ich später im Stadtzentrum auf einer Informationstafel über die lokalen Sehenswürdigkeiten wieder begegne, auf der natürlich kein Wort über das nach ähnlichen Prinzipien errichtete Rathenow-Ost verloren wird. Es ist immer wieder bemerkenswert, wie allerorten die Kultur und Architektur der DDR totgeschwiegen bzw. auf ihre (tatsächlich oder angeblich) negativsten Seiten reduziert wird.

Ich umschlich die Innenstadt außerhalb des Ebert-Ringes, bis ich in ihrem Westen auf dem wiederum von Haesler gestalteten Platz der Jugend ankam. Auf dem Wege passierte ich den Karl-Marx-Platz mit entsprechender Büste, und just in dem Moment fuhr ein Typ mit schwarzem Kapuzenpullover und Sonnenbrille vorbei, aus dessen Auto „C.R.E.A.M“ vom Wu-Tang Clan dröhnte, als sei es extra so inszeniert, um mit „Cash Rules Everything Around Me“-Raubtierkapitalismus, beschmiertem Marx und Black Block Figur den aktuellen Zustand von Ökonomie, alter und neuer Linker im postsozialistischen Ostdeutschland zu illustrieren.

Zwischendurch nutzte ich immer wieder Aufkleber mit Anti-Nazi-Parolen, um Nazisticker zu überkleben oder um ganz allgemein antifaschistische Zeichen zu setzen, was im Gebiet der ehemaligen DDR ja leider mehr als notwendig ist. Nachdem ich einen Laternenpfahl mit der Losung „Faschismus ist keine Meinung usf.“ verziert hatte, sah ich hinter mir einen kurzhaarigen jungen Mann an einem Balkon stehen, der mich misstrauisch beäugte. Gleich kam mir der Gedanke, dass mich nun wohl die lokale Faschistenszene im Visier habe und dass der Mann jetzt über Telefon seine Kameraden dazu anhalten würde, nach einem lockigen Jungen in brauner Winterjacke mit Pelzrand an der Kapuze Ausschau zu halten. Jedes Auto, das vorüberfuhr, ließ mich aufschrecken, und mir wurde erst jetzt bewusst, wieviele kurzhaarige junge Männer in komischem Kampfsportvereinsdress die Straßen bevölkerten. Mit der Zeit aber schwand die Angst, als ich merkte, dass im Straßenbild die Antifaaufkleber im Verhältnis zu denen der Nazis eindeutig überwogen und letztere vor allem größtenteils zerkratzt waren, so dass ich mich in Freundesland wähnte. Als schließlich ein weiterer junger Mann im „Good Night White Pride“-Shirt auf dem Fahrrad an mir vorbei fuhr, fühlte ich mich endgültig im sicheren Gebiet der Antifa, und die Vision, ich würde wie anno 1953 Wilhelm Hagedorn vom Volksmob durch die Straßen gehetzt, verpuffte.

So konnte mich ich leichten Herzens auf einer Bank am Havelufer niederlassen, die Stadtkirche im Rücken und den Kutter „Alte Liebe“ vor Augen, um mir meine mitgebrachten Stullen schmecken zu lassen. Frisch gestärkt betrat ich den städtischen Weinbergpark, und durchwandelte diesen, bis ich am leider nicht begehbaren, aber nichtsdestotrotz imposanten, 1912 oder so errichteten Bismarckturm anlangte. In den 70ern war einmal geplant gewesen, den Park zum Tierpark und den Turm zur Volkssternwarte herzurichten, leider aber fehlten die Mittel. Heute kann man im ebenfalls im Park befindlichen Friedhof immerhin noch einen Ehrenhain für antifaschistische Widerstandskämpfer betrachten, was ich aber leider erst eben während des Schreibens auf der Website „Sozialistische Gedenkstätten“ erfahren habe.

Verlässt man den Park in Richtung Osten, sieht man nicht nur die Stadtschleuse, eine überraschend hübsche neue (2006) Skulptur von ins Wasser spuckenden Schiffsarbeitern und ein altes (18. Jahrhundert) Denkmal für den Kurfürsten Soundso, der 1675 Rathenow vom Schwedenjoch befreite, sondern man kommt auch auf die Hauptachse der Stadt in West-Ost-Ausdehnung. Diese hat in ihrem Verlauf verschiedene Namen, im Stadtzentrum aber heißt sie Wilhelm-Pieck-Straße bzw., heutzutage, Berliner Straße. Eine nette Kleinstadtpromenade, um 1960, und man kann gut erahnen, was für eine Aufbruchstimmung hier zu dieser Zeit geherrscht haben muss. Auf dem zentralen Platz waren gerade die Marktschreier, Bananenrudi und Käsemaik. Hier befindet sich auch das Kulturhaus „Johannes R. Becher“, das im entgleisten klassizistischen Stil der 50er Jahre mit einer absurden Tempelfassade versehen wurde. Schön nichtsdestotrotz die Inschrift über dem Eingang: „Wir erhoben uns, Gestalt zu sein“. Im Inneren sprach eine ältere Frau mich an, die Kaffee trinkend an einem Tischchen saß. Sie stellte sich als Stuckateurin vor, die aus Bonn hierher gezogen war, und gab mir zu meinen Urteilen bezüglich einiger architektonischer Phänomene der Stadt, insbesondere zu dem Haus, in dem wir uns befanden, Recht, was aber, soweit ich es einschätzen kann, wohl eher daran lag, dass sie mir nicht wirklich zuhörte.

Der Achse weiter in Richtung Osten folgend, gelangte ich in einen von Altbauten bestimmten Stadtteil, wo mir der erste offensichtliche Nazi der Stadt begegnete: ein untersetzter, kahlköpfiger Schnurrbartträger in schwarzer Bomberjacke mit „Skrewdriver“-Aufnäher, der mit ein paar Frauen und einem Kinderwagen (diesen schob eine der Frauen) unterwegs war. Passenderweise sah ich sie in der Nähe eines Umsiedlergedenksteines, den der örtliche Bund der Vertriebenen gestiftet hatte und der bezeichnenderweise mit einem frischen Blumenkranz geschmückt war, während der nicht weit entfernte Platz der Freiheit mit seinem Denkmal für die Opfer des Faschismus nur einigen Säufern für ihr sonntägliches Gelage herhielt (na gut, immerhin). Der Revanchistengedenkstein befand sich übrigens im Fontanepark, wo am Vorplatz eines Altersheimes eine hübsche Skulpturengruppe das Märchen „Der Fischer und seine Frau“ symbolisiert. Dessen Moral „Nicht Zauberei bringt den Menschen das Lebensglück, er erreicht es nur durch seine Arbeit und seinen Verstand“ ist einer sozialistischen Stadt angemessen, wäre aber gegenüber der Stadtkirche noch sinnvoller platziert gewesen als in einem Park.

Mein weiterer Weg brachte nichts Weltbewegendes mehr; ein paar barocke Wohnhäuser, in denen früher die Soldaten des Preußenkönigs wohnten (Rathenow war Garnisonsstadt); hier wohnte auch die Stuckateurin, wie sie mir stolz berichtet hatte, und ich musste doch sehr an ihrem Geschmack zweifeln. Einziges nettes Detail dieses Gebietes (ich glaube, es ist die Neustadt) war, dass es hier noch immer eine Georgi-Dimitroff-Straße gibt. Die letzte halbe Stunde bis zur Abfahrt meines Zuges verbrachte ich mit einem nochmaligen Gang nach Rathenow-Ost. Dem Wetter und der Atmosphäre des Ortes nach war es ein lauer Sommerabend, und das noch vor Frühlingsbeginn. Der sympathischere Teil der Rathenower Jugend verbrachte ihn wahrscheinlich kiffend in einem der Parks. Zufrieden fuhr ich zurück nach Berlin und sah hinter mir die Sonne über dem Westhavelland untergehen.

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